Ist homöopathische Selbstbehandlung möglich?
Von Dr. med. H. Will aus NHZ (Neue Homöopathische Zeitung 1927)
Zu den edelsten Trieben, welche die Natur dem Menschengeschlecht in die Wiege gelegt hat, gehört die Caritas oder das Samaritertum, das heißt: einem in Not befindlichen Mitmenschen unaufgefordert nach besten Kräften beizustehen. Dies gilt ganz besonders im Falle der Krankheit oder Verwundung. Es ist einfach ganz selbstverständlich, dass man, wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, einen am Wege liegenden Verunglückten verbindet, dass man einem Kranken in der eigenen Familie oder in der Nachbarschaft nach bestem Können hilft oder Rat erteilt. Nur wo der kalte Egoismus des Kaufmanns oder Forschers den Menschen lediglich als Objekt der Bereicherung oder als Versuchskaninchen ansieht, ist die Barmherzigkeit verloren gegangen.
Zu allen Zeiten haben gerade die einfachen und armen Leute Kenntnisse über billige Hausmittel besessen, womit sie sich im Falle der Krankheit selbst helfen konnten. Diese Kenntnisse haben sich in den einzelnen Familien weiter vererbt und wurden meist geheim gehalten, damit diese Volksmittel nicht durch Unberufene verdorben wurden. Erst seit wenigen Jahrzehnten, seit die chemisch-pharmazeutische Großindustrie den ungeheuren Aufschwung genommen hat, gelang es ihr und der medizinischen Wissenschaft, die Rezepte dieser Mittel zu erfahren und sie im großen herzustellen. Dadurch wurden viele von ihnen dem Volke entzogen und dem Apotheken- und Rezeptzwang unterstellt. Das heißt: was früher die Hausmutter kannte und selbst herstellen konnte, was sie vorrätig hatte und dem kranken Nächsten gerne abgab, dazu ist heute das Rezept eines Arztes und der Gang in die Apotheke notwendig, ganz abgesehen davon, wieweit die Wissenschaft das gute alte Naturmittel „verbösert“ hat. Die neuen Generationen wachsen heran, ohne die Kenntnisse der Selbsthilfe in Krankheitsfällen. Sie sind dem Arzt und Apotheker auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, d.h. den Lehrsätzen der Wissenschaft, ob diese nun richtig sind oder falsch. Leider hat es sich aber gezeigt, dass die medizinische Wissenschaft große Irrwege gegangen ist. Wer sich auf sie verlassen hat, war oft genug nicht nur ungeheilt, sondern sogar verschlimmert oder von allen irdischen Schmerzen für immer befreit. Die Revolution der Medizin zugunsten des Volkes steht noch ganz im Anfang! Ich glaube gerne, dass die alten Hausmittel manchmal nicht geholfen haben. Ganz bestimmt aber haben sie niemals geschadet, denn sie entstanden aus dem Gefühl natürlicher Hilfsbereitschaft und nicht aus der Sucht nach Verdienst oder Lizenz. Sie wurden nur angewendet, wenn die Erfahrung von Generationen ihre Heilkraft und absolute Unschädlichkeit erwiesen hatte, und nicht wahllos und mit übertriebener Reklame auf den Markt geworfen. Wo sie vielleicht nicht geholfen haben, da sind sie doch wenigstens der Naturheilkraft nicht in die Zügel gefallen, wie dies mit den modernen chemischen Augenblicksmitteln der Fall ist.
Was bei der Anwendung von Hausmitteln das Schwierige ist, das ist die Kunst der „Indikation“, das heißt: die Fähigkeit, ohne „exakte“ Diagnose doch bei jedem Leiden das zuständige Mittel zu finden. Nun soll man ja nicht denken, dass die zweifellos auf großer Höhe stehende Diagnostik der heutigen Medizin für den kranken Menschen von ausschlaggebender Bedeutung sei. Diese Diagnose erstreckt sich nur auf Organe, sie erfaßt also nur einen Teil der Krankheit; denn krank ist der ganze Mensch, nicht nur das Organ, sondern auch Seele und Geist. Wenn man bei einem Kranken nichts finden kann, dann braucht er keineswegs ein Simulant zu sein. Und andererseits umfaßt die gefundene Diagnose noch lange nicht das gesamte Krankheitsbild, und die Heilung einer Diagnose bedeutet noch lange nicht die Gesundung eines kranken Menschen! Vielleicht hat die Intuition des einfachen Volkes, geleitet von der Caritas, dem herzlichen Helfenwollen, doch auch ihre Art Diagnose, die aber nicht nur das kranke Organ, sondern den kranken Gesamtmenschen mit Seele und Geist umfaßt?